Nach Monaten der Schwimmpause sollte der 5. Mai 2021 ein besonderer Tag für mich werden. Endlich öffnete das Freibad. Von Münsteraner Todsünden und einem Neustart mit Schmerzen
Morgens höre ich zufällig im Radio, dass in Billerbeck das erste und vorerst einzige Freibad in Nordrhein-Westfalen eröffnet. Der Inzidenzwert im Münsterland ist atemberaubend niedrig, deshalb dürfen sie das. Ein Ort, der nach Bullerbü klingt, scheint mir geeignet, um mein siebenmonatiges Schwimmfasten zu brechen. Außerdem wurde das Bad, das in 1960er-Jahren gebaut wurde, Anfang der 2000er von einer Gruppe Schwimmbegeisteter vor dem Abbruch gerettet. So ein Engagement ist meine volle Unterstützung wert.
Wer aus Düsseldorf kommt und ins 120 Kilometer entfernte Billerbeck will muss durchs Ruhrgebiet fahren. Vorbei an Duisburg, Essen, Bochum und Oberhausen. Wie ein Spinnennetz sind A3, A43 und A52 miteinander verwoben, wahrscheinlich, damit die Menschen von hier schnell wegkommen. Im Übrigen zu unrecht. Die Spinnenautobahn führt mich auf die A31 Richtung Emden. Ostfriesland. Das klingt nach Ferne. Wenn das in Billerbeck nichts wird, fahre ich dorthin. Nach 80 Kilometern geht’s auf eine Bundesstraße, die sich durchs Münsterland schlängelt, vorbei an textmarkergelben Rapsfeldern, Landlust-Bauernhöfen und mahnenden Kleindenkmälern. Münster kommt vom Lateinischen monasterium, was Kloster heißt und nach Monster klingt und somit ganz gut zu den perfiden Machenschaften der katholischen Kirche passt. Ein friesischer Missionar begann im 7. Jahrhundert damit, die Menschen hier in der Gegend zu bekehren, dann kam ein Bischof, dann ein Dom, dann Männer und Mäuse. Seit Anfang des 19. Jahrhunderts werden in Münster Protestanten geduldet. Evangelisch, kein Fahrradfahrer und zugereist zählen zu den drei „Münsteraner Todsünden“. Ich begehe an diesem Vormittag gleich alle drei.
Nach 1,5 Stunden Fahrzeit komme ich Billerbeck an. Nordrhein-Westfalens erstes geöffnetes Freibad im Jahr 2021 liegt hinter einem schmucklosen Flachbau am Ende einer Sackgasse. Zur Feier des Tages hatte ich erwartet, dass der Eingang mit Luftballons geschmückt ist und jeder Badegast von Bürgermeisterin Dirks persönlich empfangen wird. Ich lasse meinen Neoprenanzug im Auto, der scheint mir in dem Setting zu überdreht. Ein Fehler, wie sich später herausstellen wird.
Am Kassenhäuschen begrüßen mich zwei Damen. Die eine prüft meinen Corona-Test, die andere schreibt „Düsseldorf“ in eine Liste und beide blicken mich überrascht an. Ihr Bad hat an diesem kühlen Vormittag überregionale Berühmtheit erworben.
Ein Weg aus rötlichen Steinplatten führt vom Eingangsbereich direkt zu einem Fußbecken, wo links und rechts die Draußenduschen stehen. Daneben ragt ein zarter Sprungturm empor. Die hellblau-weiße Stahlkonstruktion sieht aus, als käme sie aus einem FisherTechnik Baukasten System. Ich vermisse ein Schild, das Menschen ein Betreten untersagt, die mehr als 20 Kilogramm wiegen.
Alles, was als Raum bezeichnet werden könnte, ist geschlossen: Die Umkleiden. Die Duschen. Bei den Toiletten gibt es eine Sondergenehmigung vom Pandemiebeauftragten. Ich stelle meine Tasche auf eine Bank, die gut drei Meter vom Becken entfernt steht. Es sind mehr Schwimmerinnen und Schwimmer im Wasser, als ich gedacht hätte. Während ich mich aufwärme und Ausschau halte nach einer geeigneten Bahn, kommt mir das Ganze hier wie eine normale Saisoneröffnung vor: niedrige Temperaturen draußen, hohe Schlagzahlen im Becken, Aufregung vor dem ersten Mal.
Wie wird meine Kondition sein? Werde ich meinen Rhythmus finden? Halte ich die Kälte aus? Macht mein Körper mit? Werde ich dieses Jahr eine andere Schwimmerin sein? Hab ich etwas verlernt? Werde ich mit den anderen mithalten können? Muss ich das überhaupt? Wie viele Kilometer nehme ich mir vor? Kann ich das hier nicht einfach mal genießen? Muss ich wieder in Leistungsschemen denken? Kann ich mit Mitte 50 damit nicht mal aufhören?
Über eine kurze Metallleiter klettere ich ins Wasser. Ich erschrecke. Die Kälte beißt sich in meine Haut und ich versuche ihr mit kräftigen Brustzügen zu entkommen. In solchen Momenten habe ich mir angewöhnt, unter Wasser zu schreien. Aber jetzt traue ich mich nicht. Ich bin zuversichtlich, dass mich das kraftvolle Schlagen des Wassers mit Armen und Beinen retten wird. Also schlage ich los. Und zucke zurück. Ich spüre einen Schmerz im rechten Oberarm, so, als hätte sich darin irgendetwas verfangen. Ich stelle mir kleine Widerhaken vor, die sich von der Sehne in den Muskel bohren und durch Bewegung wieder frei werden. Ich versuche den Arm zu heben und nach vorn zu führen, immer wieder, doch es ist, als bohrten sich die Widerhaken dadurch nur tiefer ins Fleisch.
Was? Mache? Ich? Jetzt? Schwimmerinnen und Schwimmer pflügen an mir vorbei. Ich habe das Gefühl, hier nicht mehr hinzugehören. Ich überlege, ob ich rausgehen soll. Anziehen, Tasche packen, nach Hause fahren. Mitten im Becken, umgeben von Menschen, die ihren Gewohnheiten folgen, muss ich die Pawlowsche Hündin in mir überlisten. Vorsichtig beginne ich mit Brustschwimmen, das für den Hybris-Anteil in mir ein Stil der Holzklasse ist: Man kommt damit immer zu langsam von der Stelle, weil der Froschbeinschlag einen eher zurück und als nach vorne bringt.
Mit jeder Bahn versuche ich aus der Enttäuschung raus- und in die Freude am Überhauptschwimmen hineinzugleiten. Immerhin (die Leistungsschwimmerin hat das "immerhin" an den Satzanfang gestellt) zähle ich die 55. Bahn, als ich kurz am Beckenrand anhalte, um den Nebel in meiner Schwimmbrille auszuspülen. Meine Hände zittern unverhältnismäßig stark, weshalb ich mich nach zwei weiteren Bahnen entscheide, rauszugehen. Ich steige die schmale Metalltreppe hoch und will zur Bank gehen, da merke ich, dass ich knochenlos geworden bin. Wie eine dieser klebrigen Gummifiguren, die man ans Fenster wirft und die dann langsam runterkrabbeln, nähere ich mich mit zeitlupigen Einzelschritten der Bank. Dort angekommen, zittert mein Körper unkontrolliert auffällig. Mich beschleicht die Angst, von der Bank auf die rötlichen Steinplatten zu sinken, damit den Badebetrieb zu unterbrechen und den Ruf der Gemeinde Billerbeck in Miskredit zu bringen.
Ich neige nicht zu katastrophischem Denken ohne Beweislast. Bei einem Schulwettkampf stand ich auf dem Startblock eines Kölner Freibads. Es war ein kalter Sommertag und ich war die erste Schwimmerin unserer Staffel. Der Schuss fiel, ich sprang und sank sogleich auf den Grund. Erste-Hilfe-Helfer zogen mich heraus, legten mich auf eine Bahre und trugen mich ins Warme. Unsere Staffel wurde disqualifiziert und ich geprägt von den Erinnerungssequenzen dieses Dramatages.
Meine Muskelzuckungen fallen der Frau auf, die neben mir auf der Bank sitzt und ein Laptop auf ihrem Schoß hat. Sie sagt, dass ich ja ganz schön zittern würde. Sie erzählt, dass sie Journalistin sei und für den Hörfunk arbeite. Sie kann mir viel erzählen, nur kriege ich davon wenig mit. An den Glucoseketten, die schmuckvoll durch meinen Körper baumeln, knabbern nicht mehr Neuronen - sie werden vom Muskelapparat verschlungen. Die Journalistin fragt mich nach meinem Namen. Ich gehe auf die Suche und als ich ihn gefunden habe sage ich: "Anette Frisch". Ich kann ihre V-förmigen Falten zwischen den Augen erkennen, sie lächelt so, wie man lächelt, wenn man gar nicht lächeln, sondern eine leichte Variante des Unmuts entäußern möchte und verabschiedet sich.
Ich bleibe zurück und denke an die Haut von Guðlaugur Friðþórsson. In ihrem Buch „Why we swim” erzählt die Autorin Bonnie Sui die Geschichte des Isländers. Er und seine drei Kollegen erlitten vor der Küste Islands Schiffbruch. Einer nach dem anderen ertrank, nur Friðþórsson konnte sich an den Strand einer Steilküste retten, die zu bezwingen, unmöglich war. Also ging er zurück ins Meer, schwamm in eine andere Richtung und erreichte schließlich eine Küste, von wo aus er sich ins nächste Dorf schleppte. Er klopfte an eine Tür und die Frau, ihm Tür öffnete, sah seine blutigen Fußspuren auf dem Straßenpflaster. Guðlaugur Friðþórsson hatte sechs Stunden im eiskalten Wasser überlebt, weil sein Körperdem eines Seehunds ähnelt.
Physiologisch betrachtet gleicht mein Körper wohl eher dem eines Vogels. Es dauert eine gute Dreiviertelstunde bis das Zittern nachgelassen hat und ich mich so sicher fühle, zurück nach Düsseldorf zu fahren. Die Widerhaken werden sich wenige Tage später als ein Schulter-Impingement erweisen, was mir einen persönlichen Lockdown von weiteren drei Wochen bescheren wird.
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