top of page
Anette Frisch

Die Dame, die schwimmt

Aktualisiert: 28. Apr. 2020


Copyright: Eva Häberle


Ich schwimme seit 30 Jahren. Und immer noch bin ich aufgeregt, wenn die neue Freibadsaison beginnt. Ich habe Angst, dass sich in der Zwischenzeit etwas geändert haben könnte.


Zum Beispiel, dass die Stadt auf die Idee gekommen ist, die Duschen zu modernisieren. Anstelle von weißen quadratischen Fliesen hängen auf einmal beigefarbene rechteckige an den Wänden. Oder dass die orangefarbenen Klotüren ausgewechselt wurden und die Wertschränke nicht mehr mit 50 Cent, sondern mit einem Euro funktionieren. Auch wenn sich mein Bikini auflöst oder ich eine neue Schwimmbrille brauche, neige ich zu einer gewissen Form von Autismus. Deshalb ist schwimmen zu gehen die optimale Beschäftigung.Es gibt nichts Konstanteres und Monotoneres für mich, als meine Bahnen zu ziehen, auf und ab. Im selben Tempo. Im selben Outfit. Im selben Freibad.

In Freibäder kann ich mich verlieben. In die Art, wie sie gebaut sind, welche Farben sie tragen, wie sie riechen. Wann immer ich verreise, suche ich auf Google Earth die Gegend ab, ob es dort, wo ich hinwill, ein Freibad gibt. Einmal hat mich die Suche ins Freibad Mollbeck nach Recklinghausen geführt. Doch die im Internet angegebenen Öffnungszeiten stimmten nicht. Das Bad war Anfang April noch gar nicht geöffnet und ich fand es verlassen und wasserlos vor. Ich bin ins Schwimmerbecken gestiegen und habe Fotos gemacht.

Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin, kann es sein, dass ich bei Staus einfach rausfahre. So wie in Dülmen, wo ich im »düb« landete. Einem dieser Old-School-Bäder, das sein 50-Meter-Außenbecken neben dem Freizeitkladderadatsch bestehen ließ. Meine Schwimmsachen habe ich natürlich immer dabei: Bikini, Brille und das kleinste Handtuch der Welt. Mehr brauche ich nicht. Wenn ich an der Kasse stehe, kann ich es kaum erwarten, endlich das Becken zu sehen. Mit seinem Blau und den Sonnenreflexen auf dem Wasser. Dann tauche ich ein und es ist, als würde ich umarmt. Sobald ich Wasser berühre, bin ich wie magnetisiert. Vielleicht, weil es das ursprünglichste Element der menschlichen Welt ist. Weil wir im Mutter leib geschwommen sind. Das Schwimmen weckt unsere Ursehnsucht, dahin zurückzukehren. Geschützt, gewärmt, geliebt.



Unter Wasser betrachte ich die anderen Schwimmerinnen und Schwimmer. Mit jeder Bahn ergeben sich aus den fragmentarischen Beobachtungen fleischige, sehnige, kleine, große kopflose Körper. Sie stecken in schwarzen Badehosen, sportlichen Badeanzügen und blumigen Bikinis. Die meisten schwimmen im Tempo eines Sonntagsspaziergangs. Während ich durchs Wasser pflüge und dabei mikroskopisch kleine Hautschuppen meiner Zweifel verliere. Ich verwandle mich. Die Vogelspinne erneuert sich, indem sie sich aus ihrer Haut zieht. Zurück bleibt eine leere Hülle. Sogar ein verlorenes Auge oder ein abgebrochenes Bein wachsen ihr nach. Der Sommer ist so etwas wie meine Hautabstreifjahreszeit. Denn ich gehe jeden Tag schwimmen.


Im Winter mache ich das nicht, weil ich Hallenbäder nicht mag. Sie sind zu laut und zu klein. Zum Bahnenziehen brauche ich eine Großzügigkeit, die bei 50 Metern beginnt. Wenn es regnet und die Temperaturen unter 20 Grad liegen, stelle ich mir vor, ich würde durch den Ärmelkanal schwimmen. Wie die Amerikanerin Gertrude Ederle, die 1926 als erste Frau die gut 30 Kilometer lange Strecke zwischen Dover und Calais in Badeanzug und Badekappe schaffte. Und gleichzeitig weiß ich, dass ich das nie machen werde. Weil ich Angst habe vor Tiefe und den ungesehenen Welten, die unter meinem Körper existieren. Ich fürchte, in einen Sog zu geraten, der mich nach unten zieht, in die Dunkelheit. Das Becken mit seinen vier Wänden und dem sichtbaren Boden geben mir die Sicherheit, nicht verloren zu gehen.


Nach den veratmeten Kilometern steige ich aus dem Becken. Brille ab, Silikonkappe runter, rauf aufs Dreimeterbrett, Anlauf nehmen und springen: Bevor ich abtauche, fliege ich für zwei Sekunden. Das mache ich drei-, viermal hintereinander, bis ich mich unendlich leicht fühle, für wenige Minuten in diesem Leben, an diesem Tag.


"Monotonie in Dülmen", Anette Frisch, erschienen im Magazin "Die Dame", 2017



Comments


bottom of page