Obwohl sie nicht schwimmen kann, zieht meine Mutter im Freibad die Blicke auf sich. Eine Kindheitsgeschichte von Sabine Breuer-Frisch.
Wenn es draußen wärmer wird, freuen wir Kinder uns schon auf die Badesaison. Das Sommerbad in Coburg erwacht aus seinem Winterschlaf und öffnet seine Pforten für die schönste Freizeitgestaltung, die uns diese Jahreszeit bietet. Ich bin ungefähr zwölf Jahre alt, kann zwar nicht schwimmen, aber das Planschen im Nichtschwimmer erfüllt auch seinen Zweck. Ich stelle ein Bein auf den Beckengrund, mit dem anderen hüpfe ich; mit den Armen wedele ich wild durch die Luft und pflüge ins Wasser, dass es nur so spritzt.
Ich möchte, dass die Jungs auf der Liegewiese denken: "Mensch, kann die toll schwimmen!"
Die Freibäder sind Ende der 1950er Jahre mit geringeren Sicherheitsauflagen gebaut als heute. Teer hält den Beckenrand wasserdicht. Wenn die Sonne vom Himmel knallt, verdunstet das Wasser im Bassin und legt eine schmale Teerschicht frei. Sie ist weich von der Hitze, ich drücke mit dem Finger hinein, die Masse fühlt sich wie Knetgummi an. Ich habe eine Idee.
Ich sehe es so gern, wenn jemand ein Pflaster am Knie hat oder den Arm in Gips hat. Eine Augenklappe finde ich ganz besonders toll. Ich hätte so gern einmal eine der drei Möglichkeiten in Anspruch genommen, aber wenn ich stürzte, dann immer so günstig, dass weder das eine noch das andere Hilfsmittel erforderlich war.
Heute sehe ich die Chance, endlich zu einer Augenklappe zu kommen! Ich löse etwas von der schwarzen Teermasse vom Beckenrand, beginne sie zu kneten, so lange, bis das Stück in meinen Händen einer Piratenklappe gleicht. Ich drücke das Gebilde auf mein rechtes Auge. Es hält! Ich klettere aus dem Becken, stolziere über die Liegewiese und schiele zum blonden Dieter rüber, der mich vorhin angelächelt hat.
Lässig lege ich mich auf mein Handtuch und bemerke mit Genugtuung, dass meine Augenklappe ihre Wirkung entfaltet. Oder warum rollt Dieters Ball immer häufiger in meine Richtung?
Als mich meine Freundinnen entdecken, sind sie sprachlos. Ihre Reaktion verstehe ich erst, als ich versuche, das schwarze Rund von meinem Auge zu entfernen. Ich bekomme es nicht ab! Der Teer klebt fest an meinen Wimpern und Augenbrauen. Nach mehreren Versuchen rufen meine Freundinnen den Bademeister zur Hilfe. Aber auch der kann nichts tun. Ich muss ins Krankenhaus.
In den nächsten Wochen ist an das Sommerbad nicht zu denken. Mein Auge ist tagelang geschwollen als hätte ich einen Boxkampf verloren, außerdem habe ich keine Brauen und Wimpern mehr. Dafür aber einen dicken Verband! Endlich ist mein Wunsch in Erfüllung gegangen – mit einer Einschränkung: Meine neue Augenklappe ist leider nicht schwarz, sondern weiß.
Sabine Breuer-Frisch kann mittlerweile schwimmen und weiß, warum sie sich als Kind wünschte, eine sichtbare Verletzung zu haben. Wie sonst wird man unter acht Geschwistern gesehen? Die Physiotherapeutin ist 1945 in Coburg geboren. Ihr Buch "Die schwarzen Punkte" enthält 14 kurze Geschichten über ihre Kindheit in Franken. Der Buchtitel ist der gleichnamigen Geschichte entnommen, in der die Autorin den frühen Tod ihrer Mutter erzählt. Ihren Doppelnamen hat sich Sabine Breuer-Frisch mit dem Schreiben ihres Buchs gegeben. So, als wäre sie mit dem Aufschreiben der Erinnerungen ein Stück zu sich selbst zurückgekehrt.
Sabine Breuer-Frisch, Die Schwarzen Punkte, 2018, Verlag tredition, 100 Seiten
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