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Anette Frisch

Unter der Dusche mit Barbara Vinken

Da gehe ich einmal in zwanzig Jahren im Münchner Dante-Freibad schwimmen. Und wen treffe ich? Die Grande Dame der Modephilosophie: Barbara Vinken, Professorin für Allgemeine und Französische Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität, und überall dort zuhause, wo es auf der Welt schön ist.


Das schwarz-weiß Foto zeigt eine Frau von oben, die in einem Schwimmbad schwimmt.

Neulich war ich in München schwimmen. Die Stadt kann sich ein Winterfreibad leisten, das von November bis April eine Wassertemperatur hat, die Robert Habeck in den Wahnsinn treibt. Das Dantebad wurde 1913 als Männerbad eröffnet, sieben Jahre später durften auch Frauen rein, Anfang 2000 ist es dann aufwändig saniert worden. Zu seinem Nachteil. Die Stadtwerke, die das Bad betreiben, haben ein Alubecken in den Boden gerammt, einen merkwürdigen fußpilzigen Gummibelag rund ums Becken verlegt, lieblose Monoblock-Plastikliegen aufgestellt und das Wasser auf 30 Grad gepitcht. Function: 🥳! Sense & sensuality: 🤬!


In dieser, also Badeanstalt treffe ich Barbara Vinken unter der Dusche. Die Anfang Sechzigerin ist so etwas wie die Modephilosophin Deutschlands. Ihre Bücher heißen „Angezogen“, „Eleganz“ oder „Fashion Zeitgeist“, von denen ich keines gelesen habe, weil mich Mode nicht interessiert. Obwohl? Ich kann dem Verkleiden etwas abgewinnen, zumindest in meiner Fantasie. So wie die Journalistin Meike Winnemuth ein Jahr lang ein blaues Kleid trug, hatte ich mir vorgenommen, einen Monat lang nur Anzüge zu tragen, allein um zu erfahren, ob ich mich damit seriöser empfände und so dem Heißenscheißgetröte auf LinkedIn besser standhalten könne. Dann hatte ich die Idee, ausschließlich Kleider zu tragen, um zu testen, ob ich mich damit weiblicher fühlte und somit zwischenmenschlich zugänglicher wäre. Zuletzt überlegte ich, was passierte, wenn ich eine Zeit lang meine mexikanischen Lederboots zur engen Jeans trüge. Würde ich mich sexier empfinden, wieder den ins Schlummern geratenen Appeal ausstrahlen und auf diese Weise mein Lebensgegenüber wuschig machen?


Nichts von dem habe ich getan. Zu anstrengend, zu ungemütlich das alles. Mein modischer Alltag besteht aus Baggy-Jeans, Sweatshirt und Sneakern. Dass ich seit mehr als zwölf Jahren vor allem im Homeoffice arbeite, hat aus der situativen Schludrigkeit eine Geflogenheit, ja ein wahres Schludertum entstehen lassen.


Das schwar-weiß Foto zeigt eine Schwimmerin am Beckenrand, aber ihr Körper ist verdreht. Das hat die KI erzeugt.

Trotz meines Desinteresses für modische Fragen erkenne ich Barbara Vinken im Duschraum des Dantebads. Ich kann nicht sagen, warum. Sie hat sich irgendwie und irgendwann neuronal eingeschrieben. So wie es Traumata tun, nur im positiven Sinn. Ich bin auf dem Weg zum Schwimmbecken, sie kommt gerade von dort. Ich trage einen Bikini, sie trägt nichts, bis auf diesen offensichtlich wasserfesten knallroten Lippenstift. Ihre Haare sind hochgesteckt. Das letzte Mal, dass ich unter der Dusche eine bekannte Persönlichkeit traf, ist gut 35 Jahre her.


Ich war Anfang 20 und mir gegenüber stand Frau Bernhard, die Direktorin meiner Grundschule. Auch sie trug ihre Haare hochgesteckt, was ihrem Wesen ein respektvolles Äußeres verlieh. Als Kind wirkten Frauen mit diesen Frisuren bedrohlich auf mich. Wollte nicht Fräulein Rottenmeier Heidis Freiheitsdrang ein für allemal zerstören? So wie Frau Bernhard, die mich in der Klasse immer mal wieder in die Ecke schickte, dorthin, wo der lange Vorhang zusammengeraffelt hing? Ich drehte mich in ihn hinein und lugte durch einen Schlitz hinaus in die Freiheit. Dort wo Autos fuhren, Menschen gingen, es Bäume und Wolken gab, eingewickelt in den Wunsch, aus dem Fenster zu springen, um endlich der Scham zu entkommen. Frau Bernhard hatte einen Plan für mich. Sie ahnte, dass auch bei mir zuhause die Welt jeden Tag ein Stückchen mehr unterging. Sie machte meinen Eltern klar, dass ich aufs Gymnasium gehörte und nicht, wie ich es wollte, auf die Hauptschule wie meine beste Freundin Susanne. Bei ihr fühlte ich mich in Sicherheit.


Ich stehe also neben Barbara Vinken. Und um sicherzugehen, dass sie es auch wirklich ist, recherchiere ich später die Stichworte „Barbara Vinken, Dantebad“. Ein Treffer führt mich zu einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung. Darin erzählt sie von ihrer Schwimm-Leidenschaft und dass sie zwei- bis dreimal wöchentlich im Dantebad schwimmen geht. Safe. Während ich das Wasser langsam kälter drehe und meine Haare unter die Silikonkappe stopfe, bereitet sich Barbara Vinken aufs Gehen vor. Sie greift zum Handtuch, ich will an ihr vorbei, wir schauen uns an und lächeln.


Manche Lächeln haben es in sich. Sie fühlen sich sogleich solidarisch an und das Besondere an ihnen: Sie können sprechen: „Klar", sagt dann das Lächeln, "wir beide sind älter und wir sind immer noch ziemlich schlau, schön und sexy. Das das Geschenk des Alters, dass sich das Im-Leben-Sein so gut anfühlt. Los geht’s, Schätzchen! Hab´einen guten Schwimm und lass uns die Welt verändern – welchen Fummel wir dabei tragen, ist vollkommen egal."


Function: 🤬! Sense & sensuality: 🥳!

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