Mit ihrem Erstlingswerk Nordstadt hat sich Annika Büsing auf Anhieb den Literaturpreis Ruhr und den Mara-Cassens-Preis eingeheimst. Anlass für das Interview waren aber nicht ihre Auszeichnungen, sondern weil das Hallenbad in Nordstadt ein zentraler Ort ist und eine Bademeisterin die Hauptrolle spielt. Ein Gespräch über Akademikersprech, Intuition und Liebe, die ewig endet.
Die Geschichte geht in etwa so: Im Norden der Stadt hängen die Hoffnungen so tief wie der Novemberhimmel. Wer hier liebt, rechnet nicht mit einem Happy End. Schon gar nicht Nene, Anfang Zwanzig und Bademeisterin, die für das Unglück eine ganz eigene Maßeinheit hat. Ihre Überlebensstrategie: Bahnen ziehen, versuchen zu vergessen, pragmatisch sein.
Dann lernt sie im Schwimmbad Boris kennen, der Puma-Augen hat, an Kinderlähmung erkrankt war, für den es keine Jobs gibt. Der Schmerzen hat und die Welt mit Verachtung behandelt.
Boris kapituliert vor Nenes Direktheit und ihrem Lebenswillen, sie vor seinem Entschluss, "sein Mädchen glücklich zu machen". Boris wird für Nene die Geschichtsschreibung ändern, er wird sie anlügen, er wird sie hängenlassen.
Ihre Liebe ist wie jede Liebe: nicht perfekt. Aber sie berührt beide auf eine Weise, die sie vergessen oder nie gekannt haben.
Ist Nordstadt eine Liebesgeschichte, ein Coming-of-Age-Roman oder wie würden Sie Ihren ersten Roman beschreiben?
Annika Büsing: Ich würde sagen, das ist eine Geschichte über eine lebensverändernde Begegnung. Die ist auf eine Weise sehr heilsam und auf eine andere Weise auch sehr schmerzhaft. Aber ob und wie sie in Liebe mündet oder die ganze Zeit schon Liebe ist oder was auch immer, das will ich gar nicht beurteilen. Das möchte ich den Leser:innen überlassen.
Mich hat Nordstadt an die Stimmung des Romans Tschick von Wolfgang Herrndorf erinnert.
Das habe ich schon oft gehört. Vielleicht liegt es daran, dass sich in beiden Romanen so ein Alles-oder-nichts-Gefühl einstellt. Es geht in Nordstadt aber nicht nur um die Beziehung der beiden Figuren Nene und Boris. Die Geschichte streift auch gesellschaftliche Themen. Zum Beispiel, warum Städte so schrecklich nach sozialen Gefällen geteilt sind. Es gibt Stimmen, die sagen, soziale Ungleichheit sei naturgegeben und nicht zu lösen. Ich glaube, es fehlt der sozialpolitische Wille, das zu ändern.
Warum haben Sie Ihre Geschichte im Schwimmbad angesiedelt?
Das hat verschiedene Gründe. Wasser ist ein mächtiges Symbol. Es steht für Erneuerung, für Leben. Außerdem verschluckt Wasser vieles. Das Hallenbad an sich ist für mich ein universeller Ort, der überall verstehbar ist. Es ist vollkommen egal, ob ich in Island oder Argentinien ins Schwimmbad gehe – es gibt dort ähnliche Abläufe, die ich auch ohne Sprache verstehen kann. Es ist außerdem ein Ort, an dem viele unterschiedliche Menschen zusammenkommen. Für Nene ist das Hallenbad ein unbedingtes Lebensziel: Sie will Bademeisterin werden und sie wird es auch. Sie entkommt der Tragik ihrer Familie, indem sie dieses Ziel konsequent verfolgt.
Mir hat das Hallenbad als Ort für die Geschichte sehr gut gefallen, auch wegen ihrer bildhaften Beschreibungen. Welche Bedeutung hat Schwimmen für Sie?
Also, ich kann schwimmen.
Sie sind also keine leidenschaftliche Schwimmerin?
Es geht so. Wenn man Schwimmen als Kulturtechnik begreift, ist das etwas, das einen Menschen sein Leben lang begleitet. Im Sommer geht man mit Freund:innen ins Freibad, später sind‘s die Kinder, die schwimmen lernen müssen. Außerdem habe ich festgestellt, dass ständig übers Schwimmen diskutiert wird. Seit der Pandemie können viel weniger Kinder schwimmen als vorher, das merken wir in der Schule schmerzlich. Jetzt gibt es die Energiekrise und die Wassertemperaturen werden heruntergedreht. Die Leute beschweren sich und die Bäder bleiben leer. Schwimmen bleibt also immer Thema.
Ein anderer zentraler Ort für Nene und Boris ist das Kino.
Nene hat den Drang, ihre Lebensrealität mit der Filmrealität abzugleichen. Beim Film "Manolo und das Buch des Lebens" fragt sie sich zum Beispiel, ob es stimmt, dass Liebe den Tod besiegen kann. Dieses Wechselspiel von fiktiver und realer Wirklichkeit beschäftigt mich sehr. Beim Korrekturlesen meines neuen Romans Koller habe ich festgestellt, wie sich dieser Gedanke dort noch einmal extremer eingeschlichen hat.
An verschiedenen Stellen taucht der Satz auf "Man nennt es Optionen.". Warum?
Na ja, weil man darüber nachdenken kann, ob Nene und Boris wirklich Optionen haben oder nicht. Und ich glaube, die haben sie an vielen Stellen nämlich nicht. Optionen, gern auch mal Handlungsoptionen, sind für mich Akademikersprech. Sie werden aus einer priveligierten Position heraus verwendet, von Menschen, die sich die Zeit im Abo leisten und ihre Kinder vom Reiten abholen können.
Wie entwickeln Sie Ihre Geschichten?
Am besten kann ich das mit Spielen vergleichen. Wenn man zum Beispiel Kindern zusieht, die Rollenspiele machen. Durch den Wald laufen, glauben eine Prinzessin zu sein, die gegen den Drachen kämpft. Das alles entfaltet sich in der Gedankenwelt. So ist das bei mir. Es gibt entweder eine Situation oder eine Figur, die ich vor Augen habe, und ich beginne mich zu fragen, was hat die für eine Geschichte? Bei Nordstadt war es so, dass ich nur die erste Szene im Schnee hatte.
Und dann?
Ich habe die Szene, die anderthalb Seiten kurz war, einer Freundin geschickt, die seit 20 Jahren alles liest, was ich schreibe. Sie fragte mich, was willst du denn damit machen? Ich sagte ihr, dass ich das noch nicht weiß. Am selben Abend dachte ich, vielleicht weiß ich es ja doch und habe begonnen, die Geschichte zu entwickeln. In dieser Zeit begleiten mich meine Figuren durch den Tag. Wenn ich zum Beispiel im Supermarkt stehe, frage ich mich, wie Nene zum Beispiel vor der Kasse steht, wie sie mit der Kassiererin spricht oder was sie aufs Band legt. Daraus ergeben sich dann wieder neue Situationen und die Geschichte nimmt ihren Lauf. Für mich ist das sehr intuitiv. Ich brauche die Freiheit zu sagen, mal gucken, wohin sich die Geschichte entwickelt.
Was passiert, wenn Sie mit Nene und Boris gemeinsam Nordstadt er- und durchlebt haben und am Ende allein am Schreibtisch sitzen?
Ich bin dann etwas traurig, obwohl die Geschichte nochmal ein neues Leben bekommt, wenn sie als Buch erscheint. Bei meinem neuen Roman Koller war das für mich extremer. Koller ist meine absolute Herzensnummer. Und als der Schreibprozess vorbei war, fand ich das wirklich schade.
Sie sind Lehrerin. Haben Sie sich dort die zum Teil offensive Sprache angeeignet?
Manchmal werde ich gefragt, ob die Schüler:innen nicht geschockt sind, wenn sie Nordstadt lesen. Ich sag's mal so: Wenn ich sie schocken will, muss ich früher aufstehen. Nein, die Sprache stammt nicht aus dem Schulkontext. Indem ich mich in die Figur begebe, begebe ich mich auch in die Sprachwelt hinein. Außerdem mag ich Kontraste. Meine Figuren sagen zwar Fotze, Hurensohn oder ficken, aber sie sagen auch explizit oder adäquat und wissen, was das bedeutet. Es ist ein Vorurteil anzunehmen, dass Jugendliche, die miteinander in einer Art Kurzsprech sprechen, das immer so tun. Es führt in die Irre, Menschen ihrem Sprachstil zuzuordnen. An einer Stelle im Buch sagt Nene: "Menschen sind noch lange nicht besser, nur weil sie nicht Wichser sagen." Sie hat recht.
Leseprobe
An dieser Stelle danke ich Heike Neumann. Sie hat mir den Roman von Annika Büsing empfohlen. Ohne sie wäre das Gespräch mit der Autorin vielleicht gar nicht entstanden.
"Menschen sollten mit einem Merkblatt ausgestattet sein. Bei Boris würde stehen: Gibt schnell auf. Bei mir würde stehen: Gerät in Panik, wenn sie bei McDonalds auf einer defekten Toilette eingesperrt ist. Halte dich für handfeste Auseinandersetzungen mit dem Restaurant-Manager bereit.
Es ist kein Wunder, dass Boris schnell aufgibt, so wie es auch kein Wunder ist, dass ich in Panik gerate, wenn ich bei McDonalds auf einer defekten Toilette eingesperrt bin. Boris hat so ein paar Stellen in seinem Inneren, die sind komplett wund, weil immer wieder drauf rumgehauen hat. Und rumhauen meine ich nicht wörtlich. Im Grunde kann man unsere Merkblätter mit dem letzten Punkt meiner Checklist zur Messung von Unglück zusammenfassen: Solange niemand eingesperrt und/oder mit beleidigenden und demütigenden Äußerungen überzogen wird, ist es harmlos. Zu Boris haben viele Leute beleidigende und demütigende Dinge gesagt. Sie sagten Krüppel und Quasimodo und Freak und die Kreatur. Sie fragten ihn, ob seine Mutter gesoffen habe während der Schwangerschaft, ob sein Schwanz auch so verschrumpelt sei wie seine Beine, steht er, wenn er ihn reibt, kann man mit Spasmen besser wichsen, all so Zeug, das sie witzig fanden, sie nannten ihn Spasti und Mongo und Würstchen. Das sind die wunden Stellen. Dann noch all die Erlebnisse, bei denen er festgestellt hat, dass er Dinge nicht kann, die andere können. Und das ist jetzt ein ständiger Schluckauf: Das kannst du nicht. Es kommt hoch und du kannst nichts dagegen tun. Rammt sich mit aller Macht in sein Bewusstsein, in alles Schöne. Das kannst du nicht. Leute haben es gesagt oder er hat es festgestellt. Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Das kannst du nicht.
Du kannst nicht über die Wiese rennen. Du kannst nicht Skateboard fahren. Du kannst nicht Fahrrad fahren. Du kannst nicht mit einem Schaltwagen fahren. Du kannst nicht im Stehen ein Mädchen ficken. Ich habe gesagt: "Ich mag es nicht besonders, im Stehen zu ficken, das ist schon okay." Und er hat gesagt: "Für mich ist es auch schwer, dich zu ficken, wenn ich auf dir liege." Tatsächlich geht es, denn er hat gute Arme, aber es strengt ihn wahnsinnig an. Stattdessen sitze ich oft auf ihm drauf, wenn wir Sex haben. Ich mag das, es gibt mir Sicherheit. Ich kann entscheiden, wie schnell wir sind, und wie tief er in mir drin ist. Er mag es, weil er es liebt, meine Brüste anzusehen. "Ich mag es dich anzusehen", sagt er, "alles an dir". Das gehört noch auf sein Merkblatt: Liegt gerne unten, seit er gemerkt hat, dass es kein Beinbruch ist, wenn man nicht gut oben lieben kann."
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